Weshalb ließ sich die junge Anna Knittel zweimal zum Adlerhorst abseilen?

Mutige Aktionen waren der Grund dafür, dass aus dem jungen Mädchen Anna Knittel plötzlich die berühmte ‚Geierwally’ wurde. Kaum jemand spricht jedoch von den Hintergründen, die das Mädchen zu dieser mutigen Aktion motivierten.
Weshalb also hat sich ‚Nanno’ so wurde Anna im Dorf genannt, gleich zweimal in das Adlernest abseilen lassen, um die Jungtiere, die in Tirol bisweilen als Geier bezeichnet werden, aus dem Adlerhorst zu nehmen? Eine Frage, die viele Tierliebhaber_innen heutzutage bewegen mag. Und vor allem: wo waren übrigens die üblicherweise so wortgewaltigen und kraftstrotzenden jungen Burschen, deren Mut normalerweise grenzenlos ist? 

Bergbauernfamilien kämpften damals um’s Überleben

Versetzen wir uns in das Tirol Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Bergbauernfamilien litten unter vielen erdrückenden Problemen. Die Berglandwirtschaft war auf Selbstversorgung angelegt. Schon kleine ‚Fehlernten’ konnten tödlich sein.

Eine ‚Marktproduktion‘ - also den Verkauf von Lebensmitteln - war eigentlich nur für Großbetriebe möglich. Zudem verschlechterte sich zur damaligen Zeit die Witterung massiv, Kälteperioden hielten Einzug. Die Kartoffelfäule zerstörte mehrere Jahre hintereinander die Ernten und führte in der Folge zu Hungerkatastrophen. Die bekannteste war jene in Irland, die hunderttausende Iren zur Auswanderung zwang. In Tirol waren die ‚Schwabenkinder‘ Ausdruck dieser unfassbaren Notsituation. (Um an Essen zu sparen, wurden die Kinder ins Schwabenland geschickt um unter teils unwürdigen Bedingungen zu arbeiten. Aber die Familie hatte einen Esser weniger am Tisch und die Kinder verdienten meist ein wenig Geld.)

Die starken Gletschermaxima um 1820 und in den 1850er Jahren zeigen, dass besonders feuchte und kühle klimatische Bedingungen herrschten, die auch die landwirtschaftlichen Nutzflächen beeinträchtigten. Die Häufung von Missernten führte ab 1846/47 zur letzten großen Hungersnot der Vormärzzeit, von der auch Tirol stark betroffen war. Viele Familien konnten sich nicht mehr mit den Grundnahrungsmitteln versorgen, Krankheiten und Mangelernährung breiteten sich aus.
Bild1: Anlegen eines Kartoffelackers vor dem Oberkofl Hof. ©Erika Hubatschek. Aus Das alte Tux; Bild 2: Anlegen eines Kartoffelackers vor dem Oberkofl Hof. ©Erika Hubatschek. Aus Das alte Tux

Riesige Anstrengungen, um ein wenig Geld zu verdienen

Welche unglaublichen Mühen Bergbauernfamilien damals unternahmen, um ein wenig Geld zu verdienen schildert Ludwig Steub in seiner Reisebeschreibung aus dem Jahre 1871: „Drei Sommer in Tirol“. Er schildert eine Begebenheit bei der Überquerung des Tuxer Jochs, als er von Schmirn kommend auf Menschen trifft.
„Auf dem Joch begegneten uns drei Duxer (Tuxer), ein Mann und zwei Weibsen, welche in ihren Krachsen (Kraxen) Butter nach Steinach trugen. Es wird nämlich mit der Butter aus dem Duxertale ein großer Handel getrieben und die Einwohner beiderlei Geschlechts tragen mehr als dreihundert Centner über die Jöcher nach Innsbruck oder in die Orte an der Brennerstraße.“ (3 Sommer in Tirol, S 177, 178)

Die drei mussten nicht nur rund 33 km zurücklegen, um Steinach zu erreichen, sie hatten auch noch 1.000 Höhenmeter zu überwinden. Nach Innsbruck waren es mehr als 50 km. Das alles mit vermutlich 10 - 20 kg Butter auf dem Buckel.
Bild: Frauen-beim-Heuen.-©Erika-Hubatschek

Raubtiere wurden gejagt

Bereits 1727 hatte ein Josef Knitel aus Holzgau in den Niederlanden eine Handelsniederlassung gegründet, weil dort ‚Fortuna freigebig‘ war. Bekannt und berühmt wurde eine der vielen Großhandelsgesellschaften, die drei Lechtaler in Amsterdam gründeten. Sie wurde als ‚die vornehmste Handlung‘ bezeichnet und machte deren Gesellschafter steinreich. Selbst in Amerika wurden Lechtaler Händler aktiv.
Wie später der ‚Vater des Lechtals’, Anton Falger in seiner Talbeschreibung ausführte, befanden sich 1799 bereits über 300 Lechtaler Händler im Ausland. Das muss man sich einmal vorstellen! Sie handelten in ganz Europa in der Folge nicht nur mit Tüchern, Bettzeug, Bettfedern, Schmuck und Kurzwaren, Garnen sondern auch mit Pferden, Violinen, Weihrauch, Leinsamen, Messing- und Eisenwaren. Eigentlich mit allem, was Profit abzuwerfen versprach.

Erfolgreiche Händler, die mit viel Geld ins Lechtal zurückkehrten

Im Kampf um das ‚tägliche Brot‘ wurden Raubtiere als absolute Feinde der Bergbauern betrachtet und ausgerottet. Wie etwa Bär und Wolf. Auch dem Adler ging’s an die Federn. Entweder wurden sie erschossen oder deren Nachwuchs aus dem Horst genommen. Sie bedrohten Jungtiere auf den Almen, was zur damaligen Zeit für viele Familien Hunger und Not im Winter bedeuten konnte. Wenn Adler Nachwuchs hatten war also Kampf angesagt.
Bilder: Steinadler aus Bilddatenbank

Lämmer als Adlerbeute

Irgendwie logisch: Jungtiere haben immer Hunger, da muss ordentlich Futter in den Horst geflogen werden. Das wiederum stammt normalerweise aus Jagdbeute, die Adler unter den Wildtieren machen. Wenn der Horst jedoch in einer steilen Felswand ganz in der Nähe einer Alm gelegen ist, macht sich kein Adlerpaar die Mühe, flinken Murmeltieren, jungen Gams- oder Rehkitz nachzujagen. „Weshalb in die Ferne schweifen wenn das Gute liegt so nah“ ist auch für die stolzen Adler das Motto. Und die jungen Lämmer schmecken ähnlich gut.
Saxerwand, gemalen von Anna Stainer-Knittel
Die Saxerwand, in die sich die junge Anna abseilen ließ, war so ein idealer Nistplatz für Adler. Unmittelbar vor der Wand liegt die Saxeralm, auf der Tiere aus Elbigenalp gesömmert werden. Bereits 1858 hatte Annas Vater Joseph Anton Knittel, ein Büchsenmacher, Bauer, begeisterter Bergsteiger und Jäger im nahen Alberschonertal erstmals ein Steinadlerpaar mit Reisig im Schnabel beobachtet.
Alle Versuche von ‚Loise‘, so wurde Annas Vater im Dorf genannt, die Adler über Kimme und Korn zu erlegen waren gescheitert. Da mussten also die jungen Burschen des Ortes Farbe bekennen und einen der Ihren zum Horst abseilen. Die Aktion endete nahezu in einer Katastrophe: Das Seil hatte sich in einer Felsspalte verfangen, der Bursch baumelte stundenlang über dem gähnenden Abgrund. Da er nämlich nicht mehr heraufgezogen werden konnte band man das Seil fest und schickte Boten ins Tal, um die Elbingenalper Glockenseile zu holen. Damit konnte er zwar geborgen werden aber mit dem Mut der Burschen war’s vorbei. Nicht ein Bursche war zu finden, der sich als freiwilliger Adlerjäger bereit fand, einen neuen Ausnistungsversuch zu starten.
Da meinte die damals 17jährige Anna, ‚Nanno‘ genannt, sie sei ‚der Mann dazu‘. Sie ließ sich am nächsten Tag abseilen und nahm das Jungtier aus dem Nest, das vom Vater - wie immer - in einem Verschlag am Dachboden aufgepäppelt wurde, um es später an eine Tiermenagerie oder an Falkner zu verkaufen. Die Vögel wurden sogar so zahm, dass er nur ‚Mandl komm‘ rufen musste und schon setzten sie sich auf seinen Arm.

Als Annas Vater 1863, schon wieder Adler beim Nestbau beobachtete wie schon fünf Jahre zuvor, versuchte er 18 Stunden lang (!), den Adler zu erlegen. Was allerdings mehrmals fehlgeschlagen war. Daher schlug er im Dorf Alarm.

Die jungen Burschen, denen man so etwas zutrauen sollte, waren allerdings vom ‚Abseilen‘ in den Adlerhorst der Sachserwand ‚geheilt‘. Es fand sich keiner, der sich abseilen ließ. Also machte sich Anna mit einem Oberschützenmeister, ihrem Bruder Honnus und noch einigen Männern auf den Weg zur Wand. Es war genau dieses Abenteuer, das Anna weltberühmt machen sollte.
Ihr zweites Adlerabenteuer schilderte sie auf Wunsch des bayerischen Schriftstellers Ludwig Steub, der den Text unter dem Titel „Die Lechthalerin“, bzw. „Das Annele im Adlerhorst“ in der Leipziger Illustrierten“ und in den „Tiroler Miscellen“ veröffentlichte.
Autor
Werner Kräutler
 „Die Fotos von Erika Hubatschek geben einen allerletzten Blick auf jene Zeit frei, in der die Bergbauernfamilien allein deshalb gelebt haben, um zu überleben. Die Bücher gibt es im Verlag Hubatschek: https://www.edition-hubatschek.at/edition-hubatschek/publikationen/