GEIERWALLY

Die Echte

Anna Stainer-Knittel.

WAHRHEIT

INHALT

Von Kindheit und Adlerhorst im Lechtal

Anna Stainer-Knittel, später bekannt als die „echte Geierwally“, wurde am 28. Juli 1841 in Elbingenalp im Tiroler Lechtal als zweite Tochter des Büchsenmachers Joseph Anton Knittel und dessen Frau Kreszenz geboren. Sie hatte eine ältere Schwester Theresia Carla, eine drei Jahre jüngere Schwester Johanna und einen fünf Jahre jüngeren Bruder namens Johann.

Schon als Kind zeigte Anna außergewöhnliches Zeichentalent, karikatierte Mitschüler und Lehrer und tauschte ihre Werke geschickt gegen Heiligenbildchen, ein erster Hinweis auf ihr künstlerisches und geschäftliches Gespür. Ihre Begabung fiel ihrem Vater auf, der schließlich den Lithografen Johann Anton Falger miteinbezog, welcher nach langem Aufenthalt in München wieder in seiner Heimat Elbingenalp ansässig geworden war. Dort unterhielt Falger seit 1831 eine Zeichenschule und nahm Anna auf und förderte ihr Talent mit wachsendem Interesse, während ihre Mutter ihr Malerhandwerk als "brotlose Sache" betitelte und sie in die für die damalige Zeit vorgesehene Frauenrolle lenken wollte. Anna schrieb Ihre Gedanken rückwirkend in einem Tagebuch nieder, welches im original noch erhalten ist und Einblicke in ihre Lebensereignisse bietet.

Das Talent für die Malerei kam nicht von ungefähr. Die Familie Knittel war schon seit mehreren Generationen im Kunsthandwerk begabt verankert, wie zum Beispiel ihr für Landschaftsmalerei bekannter und renommierter Großonkel Joseph Anton Koch. Ihr Onkel hat in München Bildhauerei studiert und sich anschließend in Freiburg im Breisgau niedergelassen und konnte damit Geld verdienen. Ihr Vater versuchte sie weitgehend zu unterstützen, unternahm mit ihr in den 1850er Jahren eine Reise nach Freiburg und weiter nach Mühlhausen im Elsass, um Anna eventuell bei einem seiner Brüder unterzubringen und für sie eine Lehrstelle in einem kunsthandwerklichen Betrieb zu finden. Doch die Bemühungen des Vaters blieben erfolglos, wenngleich tief inspirierend und wegweisend für die damals noch junge Tirolerin.

So verlebte Anna ihre Kindheit und Jugend im Tiroler Lechtal, wo sie in der Landwirtschaft half, anfallende Feldarbeit erledigte und im Haushalt mitarbeitete. An Regentagen widmete sie sich ihrer wahren Leidenschaft und zeichnete, bisweilen auch Vorlagen für Mieder, Brustflecke und Gürtelstickereien, bis ihr Leben im Jahr 1859 eine fundamentale Wendung nahm.

1859
Im Alter von nur 17 Jahren, machte Anna eine Erfahrung, die ihr ganzes Leben begleiten und später zur Grundlage eines literarischen Mythos werden sollte. Ihr Vater, nicht nur Büchsenmacher, sondern auch ein begeisterter Jäger und Bergsteiger, hatte in der "Saxerwand" einen einfliegenden Steinadler beobachtet, was Nestbau und einen Jungadler im Horst bedeutet. Die damals im Lechtal sehr häufig vorkommenden Adler, seit alters her einfach Geier genannt, wurden zum Schutz der Schafherden und Lämmchen, heftig bejagt. Als sich kein Bursche fand, der sich in den entlegenen Adlerhorst in der steilen Felswand abseilen wollte und der letzte Versuch eines Burschen beinahe tödlich endete, bot Anna sich selbst an um diese gefährliche Aufgabe zu übernehmen, ohne Zögern und mit bemerkenswerter Entschlossenheit.

Zwei Tage vor dem geplanten Abstieg stand ihr Vater wie gewohnt mit dem Gewehr bereit, um die Altvögel auszuschalten, die einen Angriff auf eine im Seil hängende Person durchaus hätten wagen können. Erst am Vorabend gelang ihm mit letzter Munition im Abendlicht der Abschuss des Altadlers. Am darauffolgenden Morgen brach Anna mit der Jagdgesellschaft zur Saxerwand auf. Der erfahrene Oberschützenmeister seilte sie mit einer gepolsterten Sitzschleife und einem Schultergurt über die steile Wand ab. Mit einem Grießbeil bewaffnet, einem Werkzeug mit Haken, wie es beim Holztreiben verwendet wird, kletterte sie durch den bewaldeten Steilhang und ließ sich über die Kante der überhängenden Wand ab. Um sich beim Aufprall vom Fels fernzuhalten, schwang sie sich mit dem Seil vor den Horst hin und nutzte das Grießbeil, um sich am Nestrand einzuhaken. Im Horst barg sie den am Vorabend erlegten Altvogel, legte ihn in ihren Rucksack und verstaute obendrauf das lebende Adlerjunge. Ein Einsatz des Beils zur Verteidigung war nicht nötig, denn der Vater stand weiter unten schussbereit (u.A. im "Großen Adlerbild" erkenntlich).

Die von Anna geretteten Jungtiere zog ihr Vater zuhause groß, zähmte sie und verkaufte sie später als Beizvögel an Falkner. Insgesamt soll er zehn junge Adler aufgezogen haben.

Obwohl sich die Geschichte von Annas Mut rasch im Tal verbreitete, wurde sie von der damaligen Presse eingangs ignoriert.

Ausbildung zur Malerin in München

Der Weg nach München begann für die junge Anna nicht auf direktem Weg, sondern mit einem Blick durchs Fenster. Beim Brotbacken in der heimischen Stube sah sie einen eleganten Herrn mit Künstlerhut vorbeigehen, ein Zufall, der ihr Leben als Künstlerin verändern sollte. Es war der Tiroler Maler Mathias Schmid, der gemeinsam mit dem Lehrer Anton Falger in ihr das Talent erkannte und sie für eine Ausbildung zur Künstlerin vorschlug. Im Oktober 1859, nach mancher familiärer Diskussion und zwei unglücklichen Verehrern, reiste Anna schließlich mit ihrem Vater unter Tränen in die bayerische Hauptstadt und in ein neues Leben.

In München wurde Anna als einziges weibliches Mitglied in die sogenannte Vorschule der Akademie aufgenommen, dem „Verein zur Ausbildung der Gewerbe“, heute der Kunstverein München. Eine Ausnahme in einer Zeit, in der Frauen der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen in der Kunst noch weitgehend verwehrt blieb. Sie begann ganz von vorn: mit Konturübungen, Vergrößerungen, Gipsmodellen. Bald erkannte man ihr Talent, und sie durfte Büsten zeichnen, später mit Öl arbeiten und schließlich Porträts lebender Modelle malen.

Doch der Alltag in der Stadt war hart. Anna litt unter Hunger, Heimweh und gesellschaftlichen Einschränkungen. Untergebracht in einem kargen Internat, musste sie größte Sparsamkeit üben und betrachtete das Kreide-Ausputztuch laut ihren Erzählungen schon fast als Brot. Doch die Widerstände stärkten ihren Willen: Anna lernte, für ihre Rechte einzustehen, sich von ungerechten Umständen zu lösen und sich in einer männerdominierten Kunstwelt zu behaupten.

Unterstützung fand sie bei ihrem Förderer Joseph Anton Schwarzmann, den sie liebevoll „Papa Schwarzmann“ nannte. Auch mit Mathias Schmid und dem angesehenen Künstler Moritz von Schwind pflegte sie engen Austausch. Ein Höhepunkt war der Besuch im Atelier des berühmten Karl von Piloty, dessen Werke sie zutiefst beeindruckte. Angesichts dieser Größe empfand sie sich selbst noch klein. Eine Demut, die ihre Leidenschaft für die Kunst nur weiter entfachte.
Lithografie auf Papier, 1861
Neben dem Studium malte sie erste Genrebildchen und Porträts, unterrichtete eine Schülerin und wagte sich sogar an weibliche Aktzeichnungen, und das in einer Zeit, in der dies für Frauen als moralisch fragwürdig galt. Doch Anna ließ sich nicht beirren. Ihr Selbstporträt aus dieser Zeit, schlicht in Gewand und Ausdruck, zeigt eine junge Frau mit offenem Blick, starkem Profil und einem ungebrochenen Willen.

Nach mehreren Studienjahren kehrte sie erschöpft aber gewachsen zurück ins Lechtal. Zwar sorgte ein Missverständnis mit ihrem Förderer Falger vorübergehend für familiären Unfrieden, doch bald erkannte auch ihr Vater den Wert ihrer Ausbildung. Ihre Studienblätter, an die Wände der Stube geheftet, sprachen für sich. Der einstigen „Geierwally“ aus den Tiroler Bergen war es gelungen, sich in einer Welt durchzusetzen, in der weibliche Künstlerinnen kaum Platz fanden.

Die Zeit in München war für Anna Stainer-Knittel weit mehr als nur ein Kapitel ihrer künstlerischen Ausbildung. Sie war der Beweis, dass Talent, Mut und eiserner Fleiß selbst die starren Normen ihrer Epoche durchbrechen konnten. Ein Vermächtnis, das bis heute nachhallt.
Selbstportrait Anna Knittel, Öl auf Leinwand, 1861

Die Geier-Wally

Von München zurück, verbrachte Anna die folgenden Jahre in ihrem Elternhaus und widmetet sich neben der üblichen Feldarbeit ihren Studien mit dem Ziel, bald nach Innsbruck zu ziehen. In dieser Zeit griff auch der deutsche Reiseschriftsteller Ludwig Steub das Abenteuer in der Felswand auf und verwandtelte es in eine Geschicht, die später von Wilhelmine von Hillern in den Roman „Die Geier-Wally“ (1873) adaptiert wurde. Obwohl von Hillern nie mit Anna sprach, nutzte sie deren Adlergeschichte als zentrales Motiv und versah sie mit einer fiktionalen Handlung, einer Mischung aus Heldinnenroman, Heimatidylle und romantischem Drama.

Anna selbst war mit dieser literarischen Darstellung nicht glücklich. Sie fühlte sich von der überzeichneten Romanfigur entfremdet und erkannte sich darin kaum wieder. Dennoch wurde der Mythos der „Geier-Wally“ untrennbar mit ihrer Person verknüpft und das bis heute. (Mehr zum Mythos Geierwally finden Sie hier >> )

Der Roman erlangte große Popularität, wurde vielfach nachgedruckt, für Theaterbühnen und Oper adaptiert (u. a. La Wally von Alfredo Catalani) und später auch verfilmt. Trotz der Verfremdung trug die literarische Figur maßgeblich zur Bekanntheit Annas bei und führte gleichzeitig zur Vermischung von Fiktion und Realität, unter der Anna zeitweise litt.
Aus Unzufriedenheit mit den Darstellungen schuf Anna Stainer-Knittel ihr eigenes Bild vom Ausheben des Adlerhorsts. Selbstbewusst, dem Betrachter zugewandt und detailiert. Für die Arbeit reiste sie in ihre Heimat Elbingenalp wo sie unter großen Mühen und inmitten der Gebirgslandschaft vor Ort Studien anfertigte. Das Gemälde entstand in monatelanger Arbeit samt selbst mitgestaltetem und vergoldetem Rahmen. Obwohl es beim Transport beschädigt wurde, markierte es einen Meilenstein und ist eines der bedeutendsten Werke.
"Das große Adlerbild", Selbstportrait von 1864

Leben und Beruf in Innsbruck

Schon lange vor ihrer Ankunft war Innsbruck für Anna mehr als nur ein geografisches Ziel, es war ein Ort der Sehnsucht. Die junge Malerin aus dem abgelegenen Elbigenalp träumte davon, sich in der Tiroler Landeshauptstadt eine Zukunft aufzubauen. Doch nach ihrer Rückkehr aus München fehlten zunächst die Mittel für diesen entscheidenden Schritt. In der Abgeschiedenheit des Lechtals begann sie dennoch mit aller Entschlossenheit an ihrer Künstlerkarriere zu arbeiten, meist mit einfachsten Mitteln, aber großem Ehrgeiz.

Im Frühjahr 1863, zwischen der wieder beginnenden Feldarbeit, wagte Anna ein Selbstporträt (Portrait oben). In detailreicher Biedermeiermanier malte sie sich selbst in einer festlichen Lechtaler Tracht, mit präzise dargestelltem Samt, Stickereien und dem glänzenden Hutband. Ein Bild voller Stolz und Selbstbewusstsein und wo ihr Handwerk sehr gut erkenntlich ist. Das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck erwarb das Porträt für 44 Gulden, was für die damalige Zeit ein beachtlicher Betrag war und gleichzeitig die Tür zu ihrer lang ersehnten Zukunft öffnete.

„Juchö! Jetzt wird nach Innsbruck gegangen“, schrieb sie voller Jubel in ihrem Tagebuch. Und so war es: Der erste eigene Verdienst ermöglichte ihr den Aufbruch in die ersehnte Landeshauptstadt und so zog Anna noch im selben Herbst um, bezog ein kleines Zimmer am Innrain und begann mit der Arbeit an neuen Aufträgen. Schon bald erhielt sie vom Landesschießstand den Auftrag, ein offizielles Bildnis des Erzherzogs Karl Ludwig zu malen und kurz darauf folgte ein Porträt von Feldmarschall Radetzky. Die bürgerliche Gesellschaft Innsbrucks wurde auf das junge Talent aufmerksam, Anna fühlte sich angekommen und die Stadt bot ihr nicht nur künstlerische Möglichkeiten, sondern auch menschliche Nähe und neue Kontakte.

Innsbruck wurde für sie zu einem Ort der Selbstverwirklichung, des Austauschs und des inneren Aufblühens. Unterstützt von Freunden wie dem Maler Mathias Schmid und dem Arzt Dr. Brauner, der ihr eine Unterkunft vermittelte, konnte sie sich erstmals ganz der Kunst widmen. Sie arbeitete diszipliniert, mit Fleiß und Feingefühl und wurde bald für ihre fein komponierten Porträts und detailreichen Bilder geschätzt. Doch ihr Streben reichte über das Atelier hinaus. Anna begann, sich auch der Landschaftsmalerei zuzuwenden, eine neue künstlerische Herausforderung, der sie sich mit wachsender Leidenschaft stellte. Die Natur rund um Innsbruck, das Inntal, die Berge und vor allem die Flora wurden zu ihrer neuen Inspirationsquelle. Ihre Skizzenbücher (Bild unten) aus dieser Zeit zeugen von akribischer Beobachtung, großer Sensibilität und wachsender Reife.

In dieser Phase formte sich Anna zur eigenständigen Künstlerin. Sie malte nicht im Schatten anderer, sondern entwickelte ihre eigene Handschrift, welche bis heute sehr große Anerkennung genießt. Ihr Mut, das Tal zu verlassen, ihre Entschlossenheit ihren Lebensunterhalt mit Kunst zu verdienen, und ihr Gespür für die Themen ihrer Zeit machten sie zu einer Ausnahmeerscheinung in einer männerdominierten Welt. Innsbruck war für Anna mehr als ein Wohnort, es war der Raum, in dem sich Talent, Freiheit und Vision erstmals verbinden durften. Hier wurde aus der mutigen Horstausnehmerin die erfolgreiche Malerin.

Liebe und Familie

Anfang 1866 wohnte Anna Knittel in einer Zwei-Zimmerwohnung am Innsbrucker Innrain im Haus der Familie Knapp, ein Ort, der bald zum Schauplatz einer unerwarteten Begegnung werden sollte. So zog eines Tages gegenüber ein junger Mann ein, ein Gipsformator, dessen feine Singstimme schnell die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft auf sich zog. Die Mitbewohnerinnen in Annas Haus schwärmten von dem Neuen, von seiner Freundlichkeit, seinem Fleiß und natürlich von seiner Stimme. Doch als sie ihn eines Abends selbst singen hörte, war Anna alles andere als beeindruckt. "Das soll schön sein?", rief sie spöttisch den Mädchen zu. "Der hat ja eine Stimme wie zerbrochenes Geschirr!"
Was sie nicht wusste: Der junge Mann hatte es gehört. Ein paar Tage später erhielt Anna durch Zufall einen Brief, der an den Mann gegenüber adressiert war. Sein Name: Engelbert Stainer.

In ihrem Tagebuch beschreibt sie neugierig, und auch ein wenig bewegt von einer inneren Unruhe, wie sie den Brief zum Gipsformator brachte. Was sie dort erwartete, ließ ihr Herz innehalten: Ein hochgewachsener, schlanker Mann öffnete, überrascht, höflich und überaus sympathisch. Anna, sonst selbstbewusst, stammelte einige Worte, übergab den Brief und floh beinahe verlegen die Treppe hinunter. In ihrem Innersten aber war etwas in Bewegung geraten: „So, nun ist mein Schicksal an mich herangetreten“, schrieb sie später. „Ich empfand es mit Schrecken – diesen oder keinen.“

Es war der Beginn einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte. Mit Hilfe ihrer Freundin Emmy lernte Anna den jungen Formator besser kennen. Bei einem gemeinsamen Besuch seiner Werkstatt öffnete Engelbert nicht nur seine Tür, sondern auch sein Herz. Er zeigte seine Arbeiten, seine Madonnenfiguren, sprach von seiner Herkunft und seiner Lebensgeschichte. Als Sohn eines Bildhauers in Pfunds hatte er früh Verantwortung übernommen, den kranken Vater gepflegt, gegen seinen eigenen Wunsch eine Schusterlehre begonnen und sich später mit viel Mut, harter Arbeit und Eifer in das Handwerk der Gipsformerei eingearbeitet. Gerade dieses Streben, sich aus eigener Kraft emporzuarbeiten, faszinierte Anna zutiefst.
Gipsformator Engelbert Stainer
Den will ich! Der ist einer wie mein Vater, der es aus sich selbst zu etwas bringt!“ Und Engelbert? Der war beeindruckt von Annas Kunst, ihrer Persönlichkeit, ihrer Klarheit. Als sie ihm anbot, ihm das Zeichnen von Gesichtszügen beizubringen, war das gemeinsame Arbeiten nicht nur kreativ, sondern auch zart und voller Nähe. Ein erster Kuss besiegelte, was bald mehr sein sollte als nur gegenseitige Bewunderung.

Schon 1867 verlobten sich die beiden. Doch ihre Liebe wurde auf eine harte Probe gestellt: Engelbert gestand Anna, dass eine frühere Beziehung nicht folgenlos geblieben war und ein uneheliches Kind war unterwegs. Anna blieb dennoch bei ihm. Ihre Eltern jedoch reagierten schroff, verboten den Kontakt und brachen schließlich den Kontakt zu ihrer Tochter ganz ab. Doch Anna blieb standhaft, wählte die Liebe zu Engelbert über das Wohlwollen ihrer Familie, selbst wenn das bedeutete, in Armut zu leben.

Erst kurz vor der Hochzeit am 14. Oktober 1867 in Elbigenalp gab ihr Vater schließlich seinen Segen. Es folgte eine bescheidene, aber glückliche Hochzeitsreise nach Hohenschwangau und München. Doch bald zog es beide zurück nach Innsbruck, in ein kleines Zuhause mit dünnen Mauern und viel Herz. Dort begannen sie, gemeinsam eine neue Existenz aufzubauen . Seite an Seite, im Atelier, im Laden als auch im Leben.

Es dauerte auch nicht Lange bis Anna und Engelbert ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt brachten. Trotz aller Liebe zu einander und der jungen Familie waren die Geschäfte gerade einmal genügend und die Winter hart und kalt. Insgesamt hatten Anna und Engelbert vier gemeinsame Kinder. Der erstgeborene Sohn Karl absolvierte ein Medizinstudium, sein Bruder Leo bei seinem Vater eine Lehre, Lehrjahre in Berlin und übernahm auch später das Geschäft in der Maria-Theresien Straße. Rosa besuchte ebenso wie ihre jüngere Schwester Emma eine Nähschule in St. Nikolaus.
Anna und Engelbert Stainer kurz nach ihrer Hochzeit 1867
Die Familie Stainer-Knittel auf einem Familienfoto des Jahres 1890. Vorne Engelbert und Anna, hinten v.l.n.r.: Leo, Emma, Karl und Rosa.

"Meine Malerei scheint in Mode gekommen zu sein"

In den 1870er-Jahren erlebte Anna Stainer-Knittel eine intensive und zugleich prägende Phase ihres künstlerischen Schaffens, insbesondere im Kontext der Wiener Weltausstellung von 1873. Diese internationale Großveranstaltung, die erstmals im deutschsprachigen Raum stattfand, vereinte technische Innovationen, kulturelle Vielfalt und künstlerisches Schaffen aus aller Welt. Anna entschied sich, ihr Werk in der eigens eingerichteten Abteilung für Frauenarbeiten einzureichen – in der Hoffnung, dort auf weniger Konkurrenz zu treffen. Doch die schiere Menge an Einsendungen ließ ihr Bild beinahe untergehen.

Es war schließlich der kunstaffine Ministerialrat Franz Migerka, selbst engagiert in Fragen der Frauenförderung, der sich dem Gemälde annahm und es, statt es zurückzusenden, in der parallel stattfindenden Ausstellung der Kunsthandlung Miethke im Künstlerhaus an der Lothringerstraße unterbrachte. Dort fand Annas Werk nicht nur einen würdigen Platz, sondern auch Anerkennung. Zwar konnte es nicht mit der opulent inszenierten Hauptattraktion von Hans Makart konkurrieren, doch wurde es von einem englischen Sammler gekauft. Eine der bedeutendsten frühen Verkaufserfolge Annas: 50 Pfund Sterling, ein Betrag, der die gesamte Familie wirtschaftlich entlastete.

Trotz der Freude über den Verkauf war der Aufenthalt in Wien für Anna und ihren Mann Engelbert äußerst anstrengend. Die vielen Eindrücke, die Hektik der Großstadt und gesundheitliche Beschwerden führten bei ihrer Rückkehr nach Tirol zu einer tiefen Erschöpfung. Die Malerei musste eine Zeit lang ruhen. Erst ein Aufenthalt im Lechtal und einfache Feldarbeit halfen ihr, sich körperlich wie seelisch zu regenerieren.
Teller mit Alpenblumenmotiv, 1891
Nach der Rückkehr begann für Anna eine äußerst produktive Phase. Gemeinsam mit Engelbert entwickelte sie eine neue, erfolgreiche Geschäftsidee: bemalte Alabasterfiguren und florale Souvenirs, die insbesondere zur Passionsspielzeit in Oberammergau reißenden Absatz fanden. Die Familie verlegte ihren Wohnsitz in die zentral gelegene Rudolfstraße in Innsbruck, ein strategischer Schritt, der den Verkauf deutlich beflügelte.

Anna arbeitete in dieser Zeit mit unermüdlichem Fleiß. Oft malte sie bis weit nach Mitternacht, mitunter so intensiv, dass ihre Augen darunter litten. Doch ihr Durchhaltevermögen zahlte sich aus: Ihre Werke fanden Käufer, sie begann, finanziell unabhängiger zu werden und bestand sogar auf ein eigenes Sparkonto, was für damalige Verhältnisse ein bemerkenswerter Akt weiblicher Selbstbestimmung war.
bemalte und signierte Blumenvase ca. 1880
In der neuen Wohnung im sogenannten „Leishaus“ in der Innsbrucker Rudolfstraße ging das Familienleben weiter. Die Kinder waren inzwischen herangewachsen: Karl besuchte das Gymnasium, Leo absolvierte seine Lehrjahre, Rosa wurde zu einer stolzen jungen Frau, und die jüngste Tochter Emma entwickelte sich zu einer selbstbewussten Jugendlichen. Das Haus war erfüllt von Betriebsamkeit, Kunst, Alltag und den Herausforderungen des Erwachsenwerdens.

Doch inmitten des harmonischen Familienalltags nahte ein Schatten. Bei einem Ausflug auf die Igler-Alpe lernten Anna und Engelbert einen jungen Mann namens Adolf Ortler kennen. Zunächst wurde er freundlich in den Familienkreis aufgenommen, da er sich gebildet, ehrgeizig und gesellschaftlich passend präsentierte – und auch Rosa, die „stattlich und groß heranwuchs“, zeigte Interesse. Es folgten gemeinsame Ausflüge und bald eine Verlobung mit Rosa. Doch der scheinbare Glücksfall wurde zum schmerzlichen Irrtum: Ortler, inzwischen Apotheker in Kössen, begann dort eine außereheliche Beziehung, verweigerte aber gleichzeitig eine Trennung von Rosa. Die junge Frau zog daraus selbstbewusst die Konsequenz und löste die Verlobung. Ein mutiger Schritt, der sie jedoch tief erschütterte. Ihr seelischer Schmerz manifestierte sich bald auch körperlich: Appetitlosigkeit, Rückzug und ein hartnäckiger Husten kündigten eine sich verschlechternde gesundheitliche Lage an.

Inmitten dieser familiären Spannungen erlebten Anna und Engelbert im Oktober 1892 dennoch einen besonderen Moment: ihre Silberne Hochzeit. Die beiden unternahmen eine Reise durch Norditalien, über Trient, Riva, Verona bis nach Venedig. Anna schilderte diese Reise mit poetischem Detailreichtum und einer tiefen emotionalen Resonanz. Besonders der Moment am Lido, an dem sie erstmals das offene Meer sah, wurde für sie zu einem lebensprägenden Erlebnis: ein stilles, kontemplatives Staunen über die Natur, das ihr die Vergänglichkeit menschlicher Werke vor Augen führte und ihr gleichzeitig Trost und Kraft schenkte. Es war der Höhepunkt einer Reise, die nicht nur als Jubiläum, sondern auch als Zäsur im Leben der Künstlerin gewertet werden kann.
Doch das Glück war nicht von Dauer. Bei der Rückkehr nach Innsbruck offenbarte sich Rosas Gesundheitszustand in voller Dramatik. Nach einem Kuraufenthalt in Meran kam sie sichtlich geschwächt zurück – ein Bild, das Anna zeitlebens nicht vergaß: „Mit welchem Herzweh ich sie die Stiege heraufkommen sah.“ Wenige Tage später verschlechterte sich Rosas Zustand rapide, ein Servitenpater wurde gerufen, und in der Stube der Eltern verstarb Rosa – jung, unglücklich und viel zu früh. Dieser Verlust traf Anna mit aller Härte. Aus der stolzen Malerin, Unternehmerin und Mutter sprach in jenen Tagen eine zerbrechliche Frau, deren Lebensmut auf eine harte Probe gestellt wurde.

In ihrer späteren Rückschau verband Anna ihre künstlerische Arbeit stets mit dem familiären Alltag, den Höhen und Tiefen des Lebens. Sie malte weiter, verkaufte mit wachsendem Erfolg und schöpfte neue Kraft aus der Kunst, doch Rosas Tod blieb ein tiefer Einschnitt, dessen Schmerz sie auch in ihren Briefen immer wieder thematisierte. Die Malerei war für sie nie nur Ausdruck, sondern auch Verarbeitung: von Verlust, von Hoffnung, von dem unerschütterlichen Versuch, Schönheit zu bewahren – selbst in den dunkelsten Stunden.
Rosa mit Blumenkorb, Öl auf Leinwand

Die letzten Jahre

Anna und Engelbert lebten nach dem Auszug von Karl, Leo und Emma  alleine in einer kleinen Wohnung in der Templstraße 13 in Innsbruck. Gemeinsam besuchten die beiden Engelberts Heimatort Pfunds und Orte die in Verbindung mit Kindheitserinnerungen einhergingen. Anna und Engelbert arbeiteten noch gemeinsam mit Leo für das Geschäft in der Maria-Theresien-Straße, das er von seinem Vater übernahm. Karl zog nach seiner Promotion mit seiner Frau Maria von Preu im Jahr 1894 nach Wattens und übernahm dort die Stelle als Gemeindearzt.

Am 13. September 1903 verstarb Engelbert an einem Magenleiden, das ihn seit vielen Jahren immer wieder beeinträchtigte. Darauf hin verbrachte Anna die folgenden Jahre viel bei ihrer Familie in Wattens und malte dort als auch in ihrer Wohnung in Innsbruck weiter.

Im Jahr 1911 wurde Anna eine Ausstellung im Ferdinandeum gewidmet, die auch in den Innsbrucker Nachrichten angekündigt wurde.
Großfamilie in Wattens: Mitte hinten Leo und Karl, vorne sitzend Anna, ca. 1910
Anna Stainer-Knittels letztes erhaltenes Selbstbildnis aus dem Jahr 1915 ist ein eindrucksvolles Zeugnis ihrer künstlerischen Reife und Selbstreflexion. Anders als in früheren Darstellungen zeigt sie sich nicht in traditioneller Tracht, sondern in einem schlichten, blauen, städtischen Kleid mit ovaler Halsschließe – ein Bild der Zurückhaltung und inneren Sammlung. Sie sitzt an einem Tisch, der mit kunstvoll arrangierten Blumen bedeckt ist. Neben einem hohen Strauß wilder Wiesenblumen stehen sorgfältig drapierte Blüten in einem Holzkörbchen sowie zwei gekreuzte Enziane – florale Motive, die nicht nur ihr Werk, sondern auch ihre Lebenswelt durchzogen.

Nina Stainer arbeitet in ihrem Buch "Anna Stainer-Knittel Malerin" den kunstgeschichtlichen Hintergrund gezielt auf. Dazu schreibt Nina Stainer, dass Anna im Hintergrund die beiden zentralen Gattungen ihrer Malerei anordnet: Porträt und Landschaft. Eine Ansicht ihres Heimatdorfes Untergiblen hängt rechts hinter ihr, ein Motiv, das auch als eigenständiges Gemälde existiert. Links steht ihre Staffelei mit einem halb fertigen Bild, darüber ein weiteres Porträt, in dem sich vage eine menschliche Figur abzeichnet. Die Komposition wirkt wie ein bewusst gestaltetes Resümee ihres künstlerischen Schaffens: ein Bild im Bild, das zugleich Atelier, Lebensraum und Rückblick darstellt.

Besonders bemerkenswert ist der trompe-l’œil-Effekt des Blumenstilllebens: Statt ein solches Bild gemalt an die Wand zu hängen, integriert sie es direkt in die Szene ihres Selbstporträts – fast so, als ob die Blumen real auf dem Tisch vor uns lägen. Die Palette in ihrer linken Hand, die unvollendeten Brillengläser, der direkte Blick in die Augen des Betrachters – all dies schafft eine Nähe und Intimität, die fast physisch spürbar ist. Es entsteht der Eindruck, als säße man ihr gegenüber, an einem Tisch, im vertrauten Gespräch.

Trotz der feinen Ausarbeitung von Gesicht und Blumen bleibt der Rest des Bildes in einem skizzenhaften, unfertigen Zustand – eine ungewöhnliche Entscheidung, die der Darstellung eine fast moderne Offenheit verleiht. Die rohe Oberfläche kontrastiert stark mit dem sonst glatten Farbauftrag ihrer Werke und lässt Raum für Interpretation: Ist es ein bewusst gesetzter Bruch mit Konventionen? Ein letzter, offener künstlerischer Kommentar?
Anna schloss dieses Werk nicht mehr ab. Noch während der Arbeit daran erkrankte sie im Februar 1915 an einer Lungenentzündung. Aufgrund ihres hohen Alters und einer bestehenden Herzerkrankung konnte sie sich davon nicht mehr erholen. Am 28. Februar 1915 verstarb Anna Stainer-Knittel im Haus ihres Sohnes Karl in Wattens. Dieses letzte Selbstbildnis bleibt als stilles Vermächtnis einer Künstlerin, die ihr Leben lang für ihre Kunst, ihre Familie und ihre Freiheit kämpfte – mit offenem Blick, ruhiger Hand und einer tiefen Liebe zum Detail.
Anna Stainer-Knittel in ihrem letzten Selbstportrait 1915
sämtliche Inhalte auf dieser Seite beziehen sich auf das Werk "Anna Stainer-Knittel Malerin" vom Universitätsverlag Wagner

LITERATUR

Anna Stainer-Knittel Malerin
Nina Stainer
Das umfangreichste Werk zum Leben von Anna Stainer-Knittel gibt es als Buch und e-book.