‚Geierwally‘ und ‚Sommer-frische‘: Der Beginn des Alpin-tourismus
Zwei Ereignisse trafen in der Mitte des 19. Jahrhunderts regelrecht aufeinander: Die mutige Tat eines Mädchens aus dem Lechtal und die Einführung eines Begriffs in die deutsche Sprache, der zum Synonym des frühen alpinen Tourismus werden sollte. Beides geht auf einen einzigen Reiseschriftsteller zurück, der schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, Tirol zu Fuß zu erkunden um Land und Leute zu beschreiben. Sein Name: Ludwig Steub.
Der Ursprung des Mythos der ‚Geierwally‘ wäre ohne das zufällige Zusammenwirken zweier großer Männer nicht möglich gewesen: Anton Falger, der brillante Forscher, Künstler, Archivar und Kunstsammler des Lechtals vermittelte dem bayerischen Advokaten und Schriftsteller Ludwig Steub jene unglaubliche Geschichte, die den Mut eines jungen Mädchen feiert. (Wir haben Falger im Blog Nr. 2 beschrieben). Die zehn Jahre später erfolgte romantische Ausbeutung des Stoffes im Roman ‚Die Geierwally’ durch eine bayerische Adelige erfolgte just zu jener Zeit, als die Alpen ihre Schrecken verloren. Es war eine Zeitenwende, nämlich der Beginn der touristischen Erschließung der Alpen, die bis heute anhält und im Begriff ist, Teile des Gebirgszuges langfristig zu zerstören.

Ludwig Steub (links) und Anton Falger: zwei wahrhaftige ‚Entdecker‘ Tirols. Steub als Schriftsteller, Falger als fantastischer Lithograph, feinsinniger Naturbeobachter, Archivar und Kunstsammler. Bilder: wikipedia, Wunderkammer Elbigenalp
Die Alpen waren einst ein ‚Schreckensort‘, ein ‚locus horribiles‘
Ein ordentliche Portion Mut gehörte schon noch dazu, als Schriftsteller in der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen, sich zu Fuß in die abgelegenen Alpentäler zu wagen. Die schroffen Berge die drohend gleißenden Ferner und tobenden Flüsse, die sich durch enge Schluchten zwängten galten bis dahin als gefährlich, ja sogar als lebensfeindlich. Berichte von Gletschersee-Ausbrüchen, Lawinen- und Murenkatastrophen mit verheerenden Folgen für die Alpentäler ließen den Städtern immer wieder kalte Schauer über den Rücken rinnen.
„Früher gab es „die Berge“ nicht. Sie waren nur Hindernisse, welche die Reisenden zu überwinden hatten, schreckliche Felsenmeere, entsetzliche Abgründe. Kurzum, man ignorierte diese grausame, von einer scheuen, genügsamen Bevölkerung bewohnte Natur. Es war – wie in der Literatur oft benannt – ein wirklicher locus horribiles. Wer nicht musste, wagte sich nicht in die Gegend.“ 1) Renate Papst-Gerblinger

Der Gurgler Eissee mit dem Gurgler Ferner um 1860, also zu jener Zeit, in der Steub Tirol bereiste. Aus: Wikipedia, Meyers Universum Band 21 18.
Peter Anich und Blasius Hueber machten Tirol erst ‚begehbar‘
Die beiden Tiroler ‚Bauern-Geographen‘, der geniale Peter Anich und sein nicht weniger genialer Schüler Blasius Hueber erfassten das Land Tirol zwischen 1760 und 1774 erstmals in einer für die damalige Zeit sensationell genauen Karte. Damit ebneten sie auch den Weg zur Erkundung Tirols. Es waren in der Folge vor allem deutsche Schriftsteller wie Karl Baedeker, Heinrich Noë und natürlich Ludwig Steub, die sich gleich heftig ins Zeug warfen. Sie alle begannen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Erkundungen Tirols und erforschten es quasi ‚kreuz und quer‘. Wobei ich Ludwig Steubs ‚Drei Sommer in Tirol‘ und ‚Tirolische Miscellen‘ als jene Beschreibungen Tirols betrachte, die das Land umfassend und attraktiv, vor allem aber anziehend für Reisende und Touristen darstellten. (Beide Steuben-Werke sind ganz unten als pdf-Datei bereit, von interessierten Leser_innen heruntergeladen zu werden. Ich bedanke mich bei der Universitätsbibliothek Innsbruck für deren Zustimmung dazu. Für mich ist Steub eine dringende Leseempfehlung für alle Tiroler_innen.)

Eine unglaubliche Leistung von Peter Anich und seinem Schüler Blasius Hueber: die Tirolkarte. Sie war eine der bedeutendsten kartographischen Leistungen des 18. Jahhrhunderts. Bild: wikipedia
Steub prägt den Begriff der ‚Sommerfrische‘
Steub beschrieb nicht nur die Landschaften, Gebirge, Flüsse, Dörfer, Wegverläufe und Kirchen. Er war genauso interessiert an den Menschen, die in den Tälern wohnten und arbeiteten. Er beschreibt auch manch lustige Episode, die mit dem den Tiroler_innen heute noch innewohnenden Heiligenglauben zu tun haben. Die Einbeziehung der Bewohner_innen Tirols ergibt meines Erachtens ein schriftstellerisch vollständiges und rundes Bild der damals existierenden Realitäten unseres Landes. Bei dieser Gelegenheit prägte er auch jenen Begriff, der das erste Tourismusjahrhundert in Tirol so trefflich definierte. die ‚Sommerfrische‚. (Und weil ich von Steub so angetan bin werde ich im nächsten Blog einige ‚Perlen‘ seiner Schilderungen darlegen. Nicht vergessen: wenn Sie den Blog kostenlos abonnieren erfahren sie aus erster Hand, wenn ein neuer Blog online geht.)
Steubs Besuch bei Anton Falger: die Geburtsstunde des Geierwally-Mythos
Seine Erkundungen des Lechtales – Steub legte seine Reisen selbstverständlich noch zu Fuß zurück – führten ihn auch nach Elbigenalp. Und dort suchte er Anton Falger auf, der schon damals einige Berühmtheit erlangt hatte. Als er – vermutlich von Falger – erstmals die Geschichte der mutigen Anna Knittel hörte, erkannte Steub mit Sicherheit sofort deren publizistische Tragweite. Da Anna eine Schülerin in Falgers Zeichenschule war, ersuchte er Falger, sie zu bitten, die Geschichte mit eigenen Worten zu schildern. Was Anna denn auch tat. Der Text wurde sichtlich von Steub redigiert, „Im Adlerhorst“ passte und hervorragend in die aufkommende ‚Magazinkultur‘, die sich in deutschen Landen breit gemacht hatte und bis heute fröhliche Urständ feiert.
So erschien 1863 erstmals die von Steub verfasste Geschichte vom Ausnehmen eines Adlerhorstes in Fortsetzungen in „Wolf’s Illustrirter Rundschau“, die in Leipzig verlegt worden war.2) Das Blatt spezialisierte sich schon damals auf „Abenteuer, Kriminalfälle, sowie allerlei hervorragende Ereignisse“. Steub gestand auch ein, er beschreibe das Lechtal in seinen Werken „3 Sommer in Tirol“ und „Tyroler Miscellen“ auch deshalb, um einer Geschichte Raum zu geben für „das merkwürdige Wagstück, welches in diesem Sommer ein Lechthaler Mädchen ausgeführt.“ Mit anderen Worten: Falger und seine Schülerin Anna waren der Ausgangspunkt dafür, dass das Lechtal quasi in die damalige, mediale Öffentlichkeit trat. Der von Anna Knittel verfasste Text ihrer mutigen Tat habe ich Steubs ‚Tirolische Miscellen“ entnommen. Er kann als pdf-Datei heruntergeladen werden.
Anna ärgert sich über die Grafik eines ihrer Bekannten in ‚Wolf’s Illustrirter Rundschau‘, die sie beim Ausheben des Adlernestes zeigt
Anna Knittel war mit einem wichtigen Detail der Veröffentlichung ganz und gar nicht einverstanden. Nämlich der Grafik, die als Aufmacher der Nr. 1069 des Blattes diente. Er zeigt die Szene, wie Anna im Adlerhorst den jungen Adler gerade in eine mitgebrachte Leinentasche packt. In ihren Lebenserinnerungen3) kritisiert sie weniger den Text, sondern die Illustration. Ihr Bekannter, der Tiroler Maler Matthias Schmid fertigte für die ‚Illustrirte Rundschau‘ eine Illustration, die sie bei ihrer waghalsigen Tat zeigt. Die Grafik wurde jedoch von den Zeitgenossen mit einigem Spott aufgenommen, da die Heldin dem Betrachter ihre sehr umfangreiche Rückseite zuwendet. Die voluminöse Darstellung der Hose basiert offenbar auf Annas Schilderungen, dass sie für ihren Einsatz am Adlerhorst eine Hose über den voluminösen Rock gezogen hatte.

Mathias Schmid, ein guter Bekannter Anna Knittels, fertigte jenen Stich an, mit dem ihre mutige Tat in Wolf’s Illustrirter Rundschau erzählt worden war. Eine Darstellung, über die Anna selbst ‚murrte‘, da sie ob des von Schmid dargestellten ‚breiten Hinterteils‘ verspottet worden war. Anna entschloss sich, dem Aufmacherbild ein Selbstbildnis entgegenzuhalten. Die damalige Art des Fact-checking.
Annas Ärger mündet im berühmten Selbstbildnis im Adlerhorst
Schluss mit Lustig war’s aber, als man ihr eine Illustration zuspielte, die mit folgender Zeile versehen war: „Schmid malt fleissig Bauern, Mönche und auch Büttel, nicht sicher war der Arsch der kühnen Fräulein Knittel.“ “Ich murrte in einem fort“, erinnerte sich Anna Stainer-Knittel in ihren Lebenserinnerungen. Um dann selbst zu Pinsel und Farbe zu greifen um ein großformatiges Bild ihrer selbst zu fertigen.3)

Anna Knittels Selbstbildnis ihres Abstieges zum Adlerhorst und die Bergung des Jungadlers in einem Leinensäckchen. Man sieht auch das wichtigste Werkzeug dieser Aktion, einen ‚Grieshaken‘, mit dem man normalerweise Holz aus dem Fluss fischt. Den sie aber brauchte, um sich einerseits vom Felsen abzustoßen und andererseits, sich in den Adlerhorst zu ziehen.
Im Roman wird aus Anna eine Walpurga und aus dem Adler ein Geier
Die Zeit war indes noch nicht wirklich reif, aus der mutigen Tat Anna Knittels eine Alpensaga mit riesiger Breitenwirkung zu machen. Dieser Schritt erfolgte rund 10 Jahre später mit der Veröffentlichung des Romans von Wilhelmine von Hillern „Die Geierwally“. Dass die adelige Schriftstellerin aus Anna eine Walpurga und aus einem Adler einen Geier gemacht hatte blieb zweitrangig. Es war das Aufbegehren der Hauptakteurin Wally gegen ihren Vater, die ausladenden Naturschilderungen der ‚wilden Alpen‘ und die damaligen Konzessionen, die den Roman so attraktiv gemacht hatten. Wenn ein Vergleich erlaubt ist: es war die alpine Fassung der Shakespear-Komödie „Der Widerspenstigen Zähmung“ mit einem starken Hang ins Dramatische. Denn Annas, oder eben Wallys Mut in steiler Felswand einen Adlerhorst in den wilden Alpen auszunehmen war es, was ihre Tat so einzigartig gemacht hatte.

Wilhelmine von Hillern auf einem Stich von Adolf Neumann. Die adelige Schriftstellerin legte die ‚Rolle‘ der ‚Geierwally‘ vermutlich so an, wie sie sich selbst gerne gesehen hätte: widerspenstig. Wenn man damaligen Quellen trauen darf, stand sie doch sehr unter der ‚Fuchtel‘ ihrer Mutter, die eine bekannte Schauspielerin war. Bild: Wikipedia
War ‚Die Geierwally‘ eine Art Plagiat?
Ich bin nicht allein in meiner Annahme, dass die Romanschriftstellerin Wilhelmine von Hillern von der mutigen Tat in Wolf’s Illustrirter Rundschau’ gelesen hatte. Beschrieb das Blatt doch damals schon „interessante und spannende Romane, Reise- und Jagd-Abenteuer, Kriminalfälle sowie allerlei herorragende Ereignisse“, also Stoff für potentielle Romane. Wilhelmine von Hillern bediente mit ihrem Werk nicht nur die Sehnsucht von Stadtmenschen nach dem ‚natürlichen Leben am Land und in den Bergen‘. Mit der Schilderung der ‚widerborstigen‘ Wally bediente sie mit Sicherheit auch aufkeimende Emanzipationsbestrebungen bürgerlicher Frauen. Zudem war ihr Verhältnis zu ihrer leiblichen Mutter vermutlich gestört. Denn von Hillern litt mit Sicherheit unter vielen Konventionen, die adeligen Damen auferlegt worden waren. Im Roman fantasiert sie also quasi auch in ‚eigener Sache‘ von Widerstand und Wagemut. Um sich schlußendlich doch ihrem Roman-Geliebten ohne Wenn und Aber an den Hals zu werfen. Eigentlich im Stil der Shakespeare-Komödie ‚Der Widerspenstigen Zähmung‘.
Sicher ist: Anna Knittel hatte mit ihrer ‚neuen Rolle‘ als Geierwally nicht allzuviel Freude. Ob die Frau Hillern jemals wirklich mit ihr gesprochen hatte bleibt unbestätigt. Die Fama will davon wissen, dass sie das Selbstbildnis Anna Stainer-Knittels im Schaufenster ihres Mannes Engelbert Stainer gesehen habe und in der Folge den Roman verfasste. Anna selbst hat in ihren Lebenerinnerungen nichts davon berichtet und das Kapitel kaum beschrieben. Ein kurzer Verweis in ihren Erinnerungen auf die zwei mutigen Taten im Saxergwänd bestand in der Bitte, man möge doch ihre Schilderung der Vorgänge in Wolf’s Illustrirter Rundschau nachlesen. Für sie war das ihr im wahrsten Sinn des Wortes angedichtete ‚Alter Ego‘ jedenfalls unwichtig. Sie sah sich nicht als Abenteurerin sondern als Künstlerin.
Im nächsten Blog möchte ich euch das Land Tirol zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorstellen. Basierend auf den Schilderungen von Ludwig Steub gibt es da allerlei Lustiges und Bemerkenswertes. Der Text ist eine Reise zurück in jene Zeit, in der der Alpintourismus gerade begann, Franz Senn den Deutsch-Österreichischen Alpenverein gründete und die ersten Bergführer begannen, Touristen auf die Bergspitzen zu begleiten. Wie die Klotz-Brüder der Rofenhöfe ob Vent.

Autor
Werner Kräutler
Werner Kräutler